WILLKOMMEN IN KATZIKISTAN

Vorwort

Es ist nicht so, dass ich mir nicht der Tragweite dieser Aufzeichnungen bewusst wäre. Ich weiß, dass ich Gefahr laufe, als komplett verrückt, leicht debil und bedenklich eingestuft zu werden. Ich bin das, was mein Freund Sascha als “Crazy old cat lady” bezeichnet. Nun, ich kann es nicht mehr ändern. Ich habe keine Kinder und mal ganz analytisch betrachtet, denke ich, dass es sich um eine schnöde Kompensation handelt und ich ein Ventil brauche, um meine mütterlichen Gefühle auszuleben. Zigmal am Tag denke ich angesichts meiner beiden Katzen “Wie süß!” und ebenso oft “Wie nervig!”. Wenn sie nicht da sind, ergreift mich ein heißes Sehnen, wenn die Abwesenheit länger als einen Tag dauert, schiere Verzweiflung. Mal meine ich, sie durch und durch zu kennen und rede mir eine innige Beziehung ein. Dann wieder muss ich einsehen, dass zwei unabhängige Persönlichkeiten im Haus weilen, die einen allenfalls als WG-Partner betrachten. Wer jetzt denkt “Genauso ist es.” wird gerne weiterlesen und verständig mit dem Kopf nicken. Allen anderen rate ich, die Lektüre zu beenden, sofern nicht das dringende Bedürfnis besteht, in die Lebens- und Gedankenwelt einer Verrückten einzutauchen, die in zwei behaarte Diven verliebt ist.
Ich stelle also vor: Teta und Dečko.

Die Sache mit dem i

Anfangs miauten Teta und Dettsche auf Kroatisch. Es kam kein Miau aus ihnen heraus, sondern nur ein Miuuuuu. Aber das um so öfter. Sie haben schnell Deutsch gelernt und wir unterhalten uns nun regelmäßig – allerdings in einer mittlerweile sehr eigenen Sprache, die gern das Suffix i benutzt. Ich habe mal irgendwo gehört, dass Katzen i’s mögen und angeblich gut drauf hören sollen. Meiner Meinung nach hören sie weder auf i’s noch auf sonst irgendetwas. Was uns nicht davon abhält, möglichst viele i’s in der persönlichen Ansprache zu verwenden.
Es beginnt jeden Tag mit der Diskussion über den Aufenthaltsort der Katzen. Sie sind nicht sehr entschlussfreudig und wechseln ständig ihre Meinung darüber, ob sie denn nun draußen oder drinnen sein wollen. Jedesmal zu fragen „Willst du raus?“ ist a) zu lang und b) der Süßigkeit der Katzen nicht würdig. Der Dialog wird also mit der inhaltsschweren Frage „Reini oder Rausi?“ eröffnet. Nicht dass eine Antwort käme. Dennoch eilt man untertänigst zu den diversen Türen, um sie zu öffnen und die huldvolle Entscheidung vor Ort entgegenzunehmen. Manchmal stagniert der Entscheidungsprozess auf der Türschwelle. Das Hinterteil bleibt drin, der Kopf ist draußen und in der Bude wird es kalt. Da steht man nun und fragt mehrfach nach, ob’s nun Reini oder Rausi sein darf und mit etwas Glück lockt dann doch die Duftmarke der Nachbarskatze, die dringend übertüncht werden muss. Also: Rausi. Thema erledigt.
Erledigt? Ja, für 5 Minuten. 5 Minuten, in denen man sich die Treppe zum Arbeitszimmer hochschleicht, um sich unauffällig und von den Fellbällchen unbemerkt hinter den Schreibtisch zu klemmen. Keine Ahnung, ob die Treppe bis nach draußen knarzt oder meine Gestalt Schatten durch die Scheibe wirft. Auf jeden Fall ist kurze Zeit später Reini angesagt – angekündigt durch ein sonores Mow vor der Tür. Ich weiß nicht, wo der Kater Englisch gelernt hat, aber Mow wird immer dann verwendet, wenn es sich um dringende Forderungen handelt. Und jetzt ist es eben dringend.

...

DER KOPF DES GANZEN

Das Büro – sein Zuhause.
Die Projekte – seine Nahrung.
Die Mitarbeiter – seine Familie.

Das Leben – eine einzige Inszenierung.

Ich – ein kleines Licht in der Bühnenbeleuchtung.
Funktionsfähig auf Knopfdruck.
Den anderen Lichtern gleichgeschaltet.

Das heißt: Brennen für die Sache.

Brennen
Bis du verglühst.

Die Asche?

Auf sein Haupt.

SCHWINDELERREGENDE ERFOLGE

Alles dreht sich

bei ihnen

um Erfolg
um Kontakte
um Reputation

um sich selbst.

Übel könnt’s einem werden.

NACH DER AUSSTELLUNG

Sie haben nichts gesagt. Nur geschaut. Zwei unter keinen an diesem Samstag im Dezember. Viel Spaß, nein, viel Spaß wolle er ihnen nicht wünschen, hatte der Mann an der Kasse gesagt. Den beiden, die das Glück der späten Geburt hatten. Späte Zeugen der Demütigungen und Grausamkeiten, derer sich die Eltern und Großeltern schuldig gemacht hatten und die nun gepixelt vorüberziehen und unter Glas gegen das Vergessen kämpfen. Bittbriefe, Ausreiseanträge, Gnadengesuche voller Glauben an Menschlichkeit in einem System geschaffen von Kreaturen, außen Mensch, innen...Das Wort müsste noch erfunden werden. Aber vielleicht genügt ein Wort nicht, vielleicht müssen es so viele sein wie Tote. Weil sie sonst nicht reichen, um das Unaussprechliche aussprechbar zu machen. So deutlich, dass es gehört wird. Von den Mitläufern, den Duckern, den Gleichgültigen. Die nie aufhören werden zu sein und an diesem Samstag einer von keinen sind. Die beiden Spätgeborenen schauen oft lange – und allein. Kriechen hinein in die Fotos und Schriftstücke auf der Suche nach Überlebenden und Mutigen. Um sie in der tauben Masse zu erkennen. Nachher. Draußen. Wenn die Ausstellung schließt und das Leben einfach weiter geht – als wäre nichts geschehen.

TSCHÜSS HELMUT

Ich denk’ an dich

wenn

sich die Meinung dreht
das Gewissen verstummt
die Unwissenheit spricht

Ich denk an dich

wenn

das Wohl der Macht geopfert wird
die Partei über die Überzeugung siegt
das Handeln dem Harren weicht

Ich denk an dich

wenn

das Urteil harsch
die Luft zum Schneiden dick
und die Kunstpause  einen Atemzug lang ist.

Ich denke.

An das

was du sagst

wenn

ich dich einfach duze.

DER EGOIST

Du plus ich
macht
 
Uns?
 
Falsch.
Dich.

EISZEIT

Wenn alles
nicht so wäre wie es wäre
dann
würde ich Dich zerküssen
Deinen Anisgeschmack
auf meinen Lippen verewigen
mit Deiner sanften Stimme
meine Flimmerhärchen zum Tanzen bringen
mir wünschen, dass Du
Deine Augen schließt
damit
Deine Hände besser sehen
und Dein Herz besser hört
auf das, was
mein Gefühl Dir flüstert.
 
Wenn alles
nicht so wäre wie es wäre
dann
würde ich Dich wegbringen
vom Zweifelszelt
in mein Haus der Gewissheit
wo Du direkt aus dem Bett
auf die Zukunft sehen kannst, die
am Horizont dämmert
und
den Tag verspricht, an dem Du
die Ewigkeit
teilst
in Augenblicke,
die wir uns zuwerfen.
 
Wenn alles
nicht so wäre wie es wäre
dann
würde ich alles nehmen,
was Du mir gibst
meine Liebe damit satt füttern
und meinen Verstand ertränken
Und den Rest
würde ich
an die Toten verteilen
die gierig
das Blut des Lebens lecken
das jetzt für mich
und Dich
noch einmal beginnt.
 
Wenn alles
nicht so wäre wie es wäre
dann
würde die Fantasie zusammenbrechen
unter der Wirklichkeit
und die Träume würden verwelken
gleichsam unserer Haut
unter der das Leben schlummert
eingefroren in
das Packeis der Gewohnheit
das uns überdauert
bis
der Traum
aufhört zu sein. 

DIE GESCHICHTE DIE KEINE IST

Er ist brav nach Hause gegangen. Gut so, denn es war schließlich alles gesagt. Und es war klar, was passiert wäre, wäre er denn geblieben. Sie hätte ihm angeboten, bei ihr zu übernachten. Auf dem Gästebett. Er hätte eine halbe Stunde im Dunkeln gelegen, dem Rauschen der Bahnlinie gelauscht und sich gefragt, ob das mit dem Gästebett auch so gemeint wäre. Eigentlich kann er immer schlafen. Überall. Sofort. Nur jetzt nicht, denn auf der anderen Seite der Wand wird vielleicht auch wach gelegen und nachgedacht. Über das Gästebett und darüber, dass man es gerade zum Teufel wünscht, denn auf der großen Matratze ist doch genug Platz für... Nichts. Jetzt wird geschlafen. Denn auf der anderen Seite der Wand wünscht man sich Ausgeschlafensein und Sinn für Mövenpick Himbeermarmelade, Lachsschnittchen und Melone mit Parmaschinken. Und das um 9:00 Uhr morgens. Eigentlich findet er Frühstücken doof und unnötig. Ein Kaffee am Bett wäre viel schöner. Oder im Bett. Denn das hat er sonst nicht. Dafür Kinderfüße, Kinderhände, Strubbelköpfe und Frotteeschlafanzüge in allen Größen. Natürlich findet er das großartig, manchmal zumindest. Aber das kurze schwarze Seidennachthemd, dessen Trägerin gerade ins Zimmer schaut und „Guten Morgen“ wünscht, ist auch nicht schlecht. Zwischendurch zumindest. Das Seidenhemd will Action und das will er auch. Nur anders. Das Seidenhemd findet, dass es für ihn Zeit wird aufzustehen und zu duschen. Oh ja, super Idee. Unter der Dusche kann man auch... sich darauf besinnen, was wirklich wichtig ist: Heim, Familie, Beruf, Ordnung, Beständigkeit und dieses Minimum an Langeweile. Die, wenn er es sich recht überlegt, im Grunde sehr entspannend ist. Und entspannen will er sich auf jeden Fall – ein andermal vielleicht. Denn gerade lenken die zwei kleinen Erhebungen unter diesem zur Jahreszeit unpassenden Nachtgewand ab. Und Ablenkung – ja, die kann er vertragen. Ein paar mal im Jahr, oder im Monat, oder das ganze Leben lang... Äh, halt, das gibt es nicht: Lebenslange Abwechslung. Und er freut sich, weil er so schön erkannt hat, dass Nächte in Gästebetten, Nichtgästebetten und genussvolle Frühstücke nicht das Leben sind. Das Seidenhemd steht in der Küche und rumort. Schönes Geräusch – aber auch in 25 Jahren? Dann würde sich in das Brodeln und Klappern womöglich ein Meckern und Brummeln mischen. Nicht mal unterbrochen von den lieblichen Papa-Papa-Rufen, die ihn im Moment zwar einen Scheißdreck interessieren, die aber im Grunde lebensnotwendig für ihn sind. Er folgt dem Geräusch und findet das Seidenhemd, eine mit Verona-Feldbuschs beklebte Spülmaschine, eine Kühlschranktür voller aussterbender Wörter und einen Kühlschrankkörper mit abgelaufenem Joghurt. Abgelaufen... Alles läuft ab. Alles hat seine Zeit. Auch das Begehren. Und was ist, wenn das Seidenhemd plötzlich gegen ein Blümchenshirt ausgetauscht wird oder einem praktischen, aber ziemlich unsexy Pyjama weicht?. Dann, ja dann.. hätte er einen Riesenfehler gemacht. Denn Blümchen gibt es ja zu Hause auch. Auf Unterhosen und im Garten. In dem er ziemlich gern sitzt und seinen Abkömmlingen, vier an der Zahl, voller Stolz beim Spielen zusieht. Es kann doch nichts Schöneres geben außer...

SEELENVERWANDTSCHAFT

Du bist aus Holz
aus demselben
sagst du
und ich
denke
vielleicht...
ist deshalb
bei uns beiden
der Wurm drin.

ZU FRÜH GEFREUT

UM DIE 40

Mein Herz ergraut
und ich wünschte
ich wäre taub
gegenüber
deinem Schweigen
in den rauschensten Farben
über das, was war.
Sehr laut, das alles
Aufhören,
sonst Freiheitsstrafe
für Erinnerungen.

ENTZEITSTIMMUNG

Enttäuscht.
Entgeistert.
Der Entscheidung enthoben.
Entzwei?
Vielleicht, kENNte ich dich nicht.
So aber entschlossen.

GUT EINGERICHTET

Die Worte finden ihren Weg nicht mehr. Sie werden aufgehalten von der Langeweile und der sinnlosen Frage nach dem Tag, der war wie alle Tage. Und wie alle Abende, die Du und sie öde Konversation hervorkauend an dem gemeinsamen Art-Deco-Esstisch verbringen. Die 150 Quadratmeter große Altbauwohnung feinverputztes Manifest langsam schwindender Liebe. In letzter Minute habt Ihr Eurem flüchtenden Gefühl den Weg in die Freiheit verstellt: Mit Louis-XVI.-Schränken, Biedermeier-Sofas und nachempfundenen Bakelit-Telefonen, die schweigen, denn Freunde und Bekannte gibt es schon lange nicht mehr in eurer grausamen Zweisamkeit. Mit der Gefangenschaft kam die Sprachlosigkeit. Sie und Du: Ihr führt eine ruhige Beziehung, ihr streitet nie. Worüber auch. Selbst harsche Worte sind die Kinder großer Gefühle und die sucht Ihr schon lange vergebens in Eurem stickigen Salon der Bequemlichkeit. Irgendwann nahm Dir dies Leben den Atem und als Du ein wenig unsicheren Schrittes, das Haus verlässt, stößt Du Dir Dein Herz an meinem. Unsere Seelen spielen Verliebtsein, unsere Gedanken gehen Hand in Hand. Les Belles de jour. Wenn der Abend kommt, wird Deine Hand kalt und der alte Staub legt sich auf Deine Züge. Der alte Staub zehnjährigen Mittelmaßes, welches Dir heilig. Du schließt die Tür, um der Verwirrung Ruhe zu gönnen. Fast sieht das Zimmer aus wie vorher. Aber nur fast, denn auf einmal fällt Dir auf, wie spröde das Holz der Liebe ist. Der schöne Tisch – faserig und schief. Und doch geliebt. Und gewohnt. Du beschließt jedoch, noch ein wenig mehr von dem flimmernden Purpur-Gefühl da draußen zu kosten, denn es gibt Dir ein wenig Leben zurück. Und ich erwarte Dich, möchte Dich jeden Tag ein wenig wilder mit Worten umarmen und fürchte jeden Tag den Abend ein wenig mehr. Durch die lange Nacht entfernst Du Dich immer wieder von mir, jeder Morgen ein Anlauf für neues Vertrauen. Mein Herzblut wird langsam schal, ich werde schwindelig auf der Spindeltreppe Deiner lauen Erklärungen. Ich mag nichts mehr hören über die Widersinnigkeiten Deines Seins, die Klebrigkeit Deines Beziehungsgespinstes - denn Du liebst die faulige Wärme, die zwischen euch herrscht, kannst nicht ohne sie leben. Meine Worte verlassen die verbindenden Pfade und verlieren sich im freien Fall des Nicht-Verstehens. Und kein neuer Tag will kommen. Ich taste mich durch das Dunkel und kann Dich nicht mehr finden, denn längst sitzt Du ihr wieder gegenüber. Am Art-Deco-Tisch. Beim Abendbrot. Worthülsen genießend. Und es gibt kein Purpur mehr, denn die Nacht kennt keine Farben.

RELATIVITÄTSTHEORIE

Im Großen und Ganzen verlief alles sehr angenehm. Ein lauwarmes Bad. Wunderbar relativ. So angenehm, dass ich nicht mehr weiß, ob ich bin. Zu den gleichmäßigen Rhythmen der ausgeteilten Inhalte gesellt sich der Herzschlag gen Null gehend. Das Flackern der eben noch tastenden Blicke erstirbt. Unglückliches, vages Gefühl. Wir dampfen es ein zu eiskaltem Atem. Verzeihung, zu einem wohl temperierten Hauch, der mich streift an Stellen, die Stürme empfinden wollen. Könnten. Wohl nicht werden. Zu dritt sitzen wir am Tisch: ich, Du und die Vorsicht, unsere gemeinsame große Liebe. Hatten wir sie eingeladen, Gast zu sein bei unserem bedingt ausschweifendem Gebaren? Mehr noch, gehört sie doch gleichsam dazu, diese nicht verbindende Gemeinsamkeit. Ich wäre gern tot und kann es nicht sein, denn Deine Relativität lässt meiner Absolutheit keine Chance. Gelebt haben müssten wir, um es zu sein. Und geliebt haben. Ohne Vorbehalte.
Ich streichle meine kleine Flamme. Heiß soll sie lodern und ich suche. Suche nach dem kleinen Tröpfchen

Öl.

 

IM CAFÉ

Berückt,
verzuckerstücken sich zwei.
Schlagen Brücken
zwischen Augensternen
 
Sie hätten
gerne?
 
Auch einen Teil
vom Himmel.

GNADENGESUCH AN DEN WETTERGOTT

Wenn's doch endlich
Winter würde
zuhause
und aufhörte
in Strömen zu lieben.

MÜSSEN UND WOLLEN

Ich will nicht müssen,
sprach das Wollen
Und trollte sich.
Zurück blieb
das Muss
und schwieg.

 

FUNDBÜRO

Verloren gingen
Stolz,
Ungeduld
Selbstsucht
und Misstrauen.

Aber Liebe...
hat keiner für Sie abgegeben.

 

DER BALTIC SOUL WEEKENDER

ODER

KLEINGRUPPEN AUF DEM ZAUBERBERG

Ich bin mit 38 nicht mehr jung. Ich tue jedoch so. Und versuche mich allsommerlich an Festivals mit dem Ergebnis, dass ich nachher glaube, an einem Sonnenstich, einer Blasenentzündung, einem Hörsturz oder einer Staublunge zu leiden. Damit sich Leute meines Alters dererlei Aufregung ersparen und dennoch in den Genuss mehrtägiger Livemusik kommen, gibt es das Baltic Soul Festival – ein Konzertwochenende am Weißenhäuser Strand an der Ostsee.
Abgesehen davon, dass dieses Festival zur Alterssicherung betagter Soulgrößen beiträgt, ist es wunderbar geeignet, die altmodische Ferienanlage aus Kalksandstein-Ziegeln mit Leben diesseits der 70 zu füllen. Eine Welle von Mittdreißigern bis Mittfünfzigern schwappte nun schon zum dritten Mal Ende April Richtung Ostseestrand, um sich auf fünfgeschossige Hotels, Apartmenthäuser und winzige Bungalows zu verteilen. Auch ich und meine Freundin zählen zu den nicht ganz wetterfesten Festivalgängern, die Matratzen der Isomatte vorziehen. Schon der Anblick der Hotellobby erfüllt mich mit Andacht, denn wer hätte vermutet, dass der Wochenendausflug zu einer Zeitreise in die 80er Jahre würde? Ein verspiegelter Bodeneinsatz blitzt mir entgegen, umrankt von Blumen, die auf dem kurzflorigen Teppich im Rapport vor sich hin wuchern. Schöööön! Das Mobiliar schimmert in Kirschbaum, hier und dort setzt ein wenig hochglänzendes Messing gewagte Akzente. Kunstblumen schlummern in ihren Töpfen und Vasen – im Kontrast zu dem doch recht wachen Personal in adretten Anzügen und Kostümchen. Ausgelassene Festivalstimmung macht sich breit. Voller Schwung machen wir uns auf den fünf Schritte langen Weg zum Aufzug, der uns samt Gepäck (Zwei T-Shirts – das hat nicht geklappt!) in den ersten Stock bringt, wo wir unser Zimmer für Behinderte beziehen. In Sachen Teppichboden war man konsequent. Er wechselt ab der Schwelle lediglich den Grundton. Im Bad wartet ein Spiegel mit Kippmechanismus für Rollstuhlfahrer. Noch kann ich stehen und ich finde, dass der eingestellte Winkel mein Gesicht ganz unvorteilhaft lang und traurig wirken lässt. Aber ich bin auch traurig, denn das ganze Ambiente heißt mich im Lebenssommer willkommen.

Ich klappe erstmal den Spiegel nach oben. Lebenssommer hin oder her – ich bin nicht allein und wenn ich mich beeile gleich rausgehfertig. An das Trägerkleid ist bei dem Wind leider nicht zu denken. Stattdessen Zwiebelmontur aus Shirt, Kapuzenjacke, Strickjacke, Lederjacke und Halstuch. Und dann zum Meer, denn es ist immer tröstlich – auch im Falle der Midlife-Crisis. Das finden offensichtlich auch andere. An einer Rückenlehne aus Strandhafer und Sand reihen sie sich auf: Familien, Pärchen, Festivalgrüppchen im S- bis L-Format mit und ohne Hund, einsame Streiter. Nicht mal laut sind sie. Gesittet gucken sie aufs Meer solange die Abendsonne scheint. Als es frischer wird, zieht man sich zurück - in den Schutz der überdachten Terrassenanlage aus Waschbeton, wo auf plastikbetuchten Tischen gepolsterte Speisekarten ausliegen, die Gutbürgerliches denjenigen versprechen, die nicht grillen wollen. Ich will nicht grillen. Muss ich mich nun schämen? Müsste trotz erschlaffender Gesichtsmuskulatur die Freude am Grillen ungebrochen sein? Immerhin – man hat noch keine dritten Zähne, die sandbestäubte Würstchen nur unter Schmerzen bewältigen könnten. Ich möchte trotzdem lieber in meinem Kunststoffstuhl sitzen und bedient werden. Hamburg ist eine Stunde und zwanzig Minuten entfernt. Das merkt man der Getränkekarte an: Bionade, Aloha, Rhabarber- oder Cranberryschorle fehlen. Dafür gibt’s echte Cola und nicht die allzu natürlich schmeckende Fritzbrause. Da passen die Pommes und der panierte Rotbarsch einschließlich einem ordentlichen Schälchen Remoulade hervorragend. Es verspricht ein ungesundes Wochenende zu werden. Die Begleitung sieht das auch so und sucht unter der fetten Mozzarellaschicht ihr Putensteak. Das kann dauern, deshalb beginne ich, Statur, Klamotten und Gesichter der inzwischen Angereisten zu begutachten. Viele sind trotz der frühen Jahreszeit knusprig braun, feist und dem Anlass entsprechend auf jung getrimmt. Das Festivalbändchen in Goldgelb strahlt mit dem Goldkettchen am Hals um die Wette. Die fleischgewordene Fortsetzung der Hotellobby. Lieber Gott, lass es Abend werden. Der liebe Gott zeigt sich kooperativ und lässt die Dunkelheit heraufziehen. Die Goldkettchen verschwinden im Schatten, sie werden zum Nichts angesichts der alles überstrahlenden „Galerie“. Hier haben Touristen an Regentagen freien Auslauf. Zwischen Restaurants aller Art, nachgemachten Renaissancefassaden, Aquarien und Kinderparadiesen darf gegessen, gegessen und gegessen werden. So lässt sich schon mal eine Woche verbringen. In der Konzerthalle dann verwaiste Belustigungen so weit das gequälte Auge reicht. Elektronisches Mensch-ärgere-dich-nicht, Kinder-Cartfahren, Indoor-Minigolf, Billard, Tischfußball, Tischtennis. Ich plädiere dafür, das ganze Arrangement unter Denkmalschutz zu stellen – als Zeugnis für eine Urlaubskultur, die einem die nächsten Generationen sonst nicht glauben würden. So versunken bin ich in die Rückführung, dass ich mir die weite Halle, die wir nun betreten, mit glücklichen, rotgesichtigen Urlaubern vorstelle, die zum bunten Abschlussabend Selbstkreiertes vortragen und anschließend im mintgrünen C&A-Satinkleid beim Foxtrott brillieren...

Spaziergang

Ich such nach dir
in fremden Gesichtern,
Gesten, Worten
krank vor Heimweh
gehe ich in mich
dich noch einmal zu sehen.